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ZITATE
Jeder kennt sie - diese Sätze, Worte aus dem Munde anderer, die auf uns wirken, uns beeindrucken, zum Nachdenken und möglicherweise auch zu eigenem Schaffen anregen. Gemeint sind nicht die Sinnsprüche, Sprichwörter oder "geflügelte Worte", sondern eher geschriebene Sätze, die einen bei der Lektüre innehalten lassen, weil sie Gedanken zeigen, die man teilt, weil sie Themen berühren, die einen bewegen, weil sie etwas artikulieren, für das man selbst noch nicht die Worte gefunden hat.
Zitate sind stets mehr als nur literarische Fundstücke. Sie sind ein Beleg für eine Idee und unterstützen das Selbst-Erfahrene, das Selbst-Gefühlte, das Selbst-Gedachte. Für Christel Koerdt, die sich in ihrer künstlerischen Arbeit seit Beginn der 1990er Jahre mit Texten, Typographie und typographienähnlichen Kommunikationssystemen in Form von Objekten und Rauminstallationen auseinandersetzt, zeigt sich eine von Friedrich Nietzsche stammende Aussage als ein Schlüsselsatz für ihr eigenes Werkschaffen. "Durch Worte und Begriffe werden wir immer wieder verführt, die Dinge uns einfacher zu denken als sie sind".
Die von ihr häufig selbst wahrgenommene Uneindeutigkeit und Schwierigkeit bei der Vermittlung sogar einfachster Denkzusammenhänge und Gefühlszustände sowie intellektueller Positionen überträgt sie in ihre künstlerische Arbeit. Sie transformiert ausgesuchte Texte in plastisches Material, codiert die Texte auf unterschiedliche Weise und lotet dabei zugleich die künstlerischen Dimensionen der kulturell überlieferten Schrift- und Zeichensprache aus.
Koerdts Ausgangsmaterial sind "ZITATE" aus unterschiedlichen Quellen. Sie transfiguriert die von ihr als bedeutsam erachteten Sprach- und Text-Fundstücke in Formen, die in ihrer sinnhaft-sinnlichen Gestaltung auf faszinierende Weise mit dem Ursprungstext korrespondieren oder aber in ihrer ästhetischen Ausdrucksstärke über die Textquelle hinaus die Kraft zu einem autarken Eigenleben besitzen.
Der Dortmunder Künstlerin geht es in ihren Arbeiten um neue Ausdrucksformen für vermeintlich Bekanntes. Obgleich in ihrer Textkunst häufig die Syntax verändert wird, bleibt der semantische Sachverhalt als Basismaterial doch erhalten. Selbst dann, wenn das zugrunde liegende grafische Zeichensystem seinen spezifischen Lautwert verliert und eher ästhetische Reflexionen evoziert statt einer Lektüre. Stets verbleibt eine rudimentäre Sinnfigur in der visuell abstrahierten Bilderschrift, die bei Kenntnis des Codes vom Betrachter als sprachliches Kommunikationselement entschlüsselt werden kann.
Christel Koerdt arbeitet mit ihrer Text-Kunst stets raum- bzw. wandbezogen. Sie positioniert ihre Materialien, direkt auf die Wand, den Boden, in den Raum. Sie rahmt ihre Arbeiten nicht ein, grenzt sie nicht ab und lässt damit den Betrachter so nah an die Arbeit heran, dass er sich letztlich mitten im Kunstwerk befindet. Damit bietet sie ihm stets eine direkte Konfrontation, aber auch Annäherung an die Fülle manchmal nur bruchstückhaft apperzipierbarer Texte. Der Betrachter selbst wird integrierter Teil der Kunstwerke, seine Reaktionen vervollständigen das Werk in seiner sozialen, kommunikativen Komponente.
Für die erste der drei ausgestellten Arbeiten, der der Besucher in der Galerie Januar begegnet, verwendete Christel Koerdt ein für sie neues Material: Bügelperlen. Dabei handelt es sich um kleine bunte Plastikperlen, die auf einem Rasterbrettchen mosaikartig zu ausgewählten Formen und Bildmustern zusammengelegt und anschließend durch Bügeln und nachträgliches Erkalten zu einer Einheit verschweißt werden. Dieses eigentlich für Vorschulkinder zum Training manueller Geschicklichkeit erdachte Material inspirierte die Künstlerin zu einer ästhetischen Neuformulierung ihrer Zitat-Kunst. Dem additiven Prinzip folgend reiht sie Perle an Perle und verbindet diese mithilfe von Hitze zu Buchstaben und Worten. So entstehen meterlange, wandteppichartige Netzgewebe, die letztlich ein verwirrend vielfarbiges Schriftbild ergeben. Auf den Betrachter wirken diese in vertikaler Reihung den Raum füllenden Textstreifen als seien sie in Bewegung, als bestünden sie aus kleinen Leuchtdioden. Diese Wirkung wird noch durch den Effekt verstärkt, dass in der schrill wirkenden Farbkomposition einzelne Partimente phosphorisierende, bei Dunkelheit nachleuchtende Farbwerte besitzen und somit an die computergesteuerten Laufschriften von Jenny Holzer erinnern. Doch die Arbeiten von Christel Koerdt sind statisch. Es ist das Auge des Betrachters, das an der Schrift entlanglaufen muss.
Allerdings sieht sich der Betrachter einem kaum entschlüsselbaren Textfluss gegenüber, der an die Babelsche Sprachverwirrung genau so erinnert wie an endlose kryptische Texte in Programmiersprache. Christel Koerdt hat den von ihr ausgewählten Text einer besonderen Verschlüsselung unterzogen: alphanumerisch und zugleich doppelt codiert. Zugrunde liegt eine vermeintlich simple Codierung, bei der Buchstaben hinsichtlich ihrer Stellung im Alphabet als Ziffern verschlüsselt werden. Also A=1, B=2, Z=26. Christel Koerdt führt diese Codierung durch das Ausschreiben der Ziffern in eine neue Dimension und potenziert damit die Verschlüsselung. Denn die ausgeschriebenen Ziffern, d.h. 1=EINS, 2= ZWEI, 26 = SECHSUNDZWANZIG werden nach gleichem Muster noch einmal codiert, was dazu führt, dass nun aus A=1=EINS die Verschlüsselung von E=FUENF, I=NEUN, N=VIERZEHN und S=NEUNZEHN führt. Somit ist der ursprüngliche Buchstabe A in der 2. alphanumerischen Codierung zu lesen als A=FUENF NEUN VIERZEHN NEUNZEHN.
Nach diesem, die Menge des Urtextes um ein Vielfaches potenzierenden Prinzip hat Christel Koerdt mit den Bügelperlen in hoher Konzentration und mit enormem Zeitaufwand einen Textabschnitt von Cees Nooteboom aus dem Buch "Die Reise nach Santiago" erstellt. Der Text in seiner lesbaren Form endet mit dem Satz: "... wir befinden uns immer in Wörtern", was mit dieser Installation nicht nur der räumlichen Realität entspricht, sondern geradezu die poetische Komponente des Textes illustriert, der in seiner unverschlüsselten Form beginnt: "Es hat Macht so ein Wort ..."
Die Insignien dieser Wort-Macht werden in der visuell poetischen Text-Kunst von Koerdt subtil zum Ausdruck gebracht, denn sie zeigt Wörter nicht nur als syntaktische Bindeglieder, sondern stets auch als die Schnittstelle für Bezeichnen und Begreifen, Sprechen und Denken, Wahrnehmen und Vorstellen.
Wie auch die Werke von Vertretern der Konkreten Poesie oder der Konzeptkunst - wie z.B. Ferdinand Kriwet, Lawrence Weiner oder Jason Rhoades - unterliegen Koerdts Arbeiten weniger dem Interesse an Typographie an sich, als einer spezifischen Konstruktionsperspektive, in der Sprache nicht nur gedankliche Räume erschließt, sondern bestimmt wird von kompositorischer Technik und konzeptionellen Materialfestlegungen.
Ein Text von Friedrich Nietzsche ("Vorwärts") bildet die Grundlage für eine weitere raumgreifende Installation von Christel Koerdt. Der gesamte, mehrzeilige Text, von Koerdt als lebensbejahend, trostreich und motivierend rezipiert, wurde von ihr konsequent Buchstabe für Buchstabe aus Pappwabenplatten ausgesägt. Diese sinntragenden Lettern hat Koerdt in mehrere Umzugskartons verpackt und diese in die Mitte des Raumes platziert. Die Kartons sind randvoll gepackt und offen, so dass sich dem Betrachter nur die oben aufliegende Buchstabenschicht zu erkennen gibt. Auf den Wänden zeigt sich dagegen eine scheinbar unstrukturierte Ansammlung divergenter Formen, die erhaben aus der Wandfläche hervortreten. Es sind runde, halbrunde, dreieckige Pappwabenstücke, die - obgleich keinen bestimmten Rhythmus aufzeigend - einer rätselhaften Melodie zu folgen scheinen. Die Wände selbst scheinen zu pulsieren, zu atmen.
Bei den plastischen Wandapplikationen handelt es sich um die freigelegten, ausgesägten Innenräume der Buchstaben A B D O P Q R, a b d e g o p q. Beinahe 2000 Teile sind dem exakten Textverlauf entsprechend linear über die gesamte Wandfläche des zweiten Galerieraums angebracht und bilden somit das Pars pro Toto für den in seiner formalen Gestalt geradezu anatomisch sezierten Gesamttext. Diese Pappwaben-Punzen vermitteln mit ihrem Schattenwurf eine schwer fassbare Raumwahrnehmung.
Die meditative Ruhe und positiv geladene Stimmung, die dieser Raum mit seinem durchaus eigenem ästhetischen Reiz ausstrahlt, steht mit Koerdts positiver Textrezeption in harmonischem Einklang. Schrift wird hier zum Bild, zum Diagramm einer Idee, zu einer Konstruktion bzw. Konstellation, in der ehemals Lesbares durch eine sublime Transformation zu Sichtbarem wird. Steht man in dem Raum, befindet man sich auch mitten im Thema. Die scheinbar schwebenden Punzen fungieren als Restinseln des Wissens um die komplexe Bedeutung des Textes. Nietzsches Existenzphilosophie findet durch Christel Koerdts künstlerische Intervention zu einer neuen künstlerischen Ausdrucksform. Gerade durch die Entmaterialisierung entledigt sie den Nietzsche-Text gewissermaßen seines physischen Ballasts und aktiviert wieder geistige Kraft. Koerdts künstlerische Transformation macht den Text schwere-, aber nicht bedeutungslos. Sie schafft aus dem abstrahierten Schrift-Material eine künstlerische Installation, die dem Rezipienten Freiräume für eigene assoziative "Hirngebilde" gibt.
Nach Vilém Flusser* manipulieren Dichter Worte und Sprachregeln mittels Buchstaben, um ein Erlebnismodell für andere herzustellen. Im gleichen Sinne offenbart sich hier der künstlerische Eingriff von Christel Koerdt als eine Manipulation, die ein neuartiges Text-Erlebnis schafft, allerdings fern aller gewohnten Lese- und Sehgewohnheiten.
Die dritte, "Labyrinth" betitelte Rauminstallation befindet sich im Keller der Galerie und zitiert den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein mit einem Satz, der ähnlich exemplarisch für den Arbeitsansatz von Christel Koerdt steht, wie das bereits zu Beginn erwähnte Nietzsche-Zitat. Labyrinthisch verschlüsselt wartet Wittgensteins schriftlich fixierter Gedanke zum Wesen der Sprache in der Dunkelheit des Kellers auf den Besucher.
Der in dem fensterlosen, dunklen Kellerraum in fluoreszierender PVC-Folie gedruckte, direkt auf den Fußboden des Kellers applizierte und mit Schwarzlicht beleuchtete Text bleibt auch auf den zweiten Blick hin rätselhaft. Trotz der Leuchtwirkung der einzelnen Lettern scheint er nicht lesbar, wirkt wie eine willkürliche Buchstabenmenge ohne inhaltlichen Sinn. Erst wer entdeckt, dass der Text hier nicht in der gewohnten Leserichtung präsentiert wird, sondern sich mäanderartig zu dem Zentrum der beinahe quadratischen Textfläche schlingt, um von dort wieder nach außen zu führen, hat eine Spur zur Erschließung des sich von oben nach unten, von rechts nach links, teils auch seitenverkehrt lesbaren Textes gefunden. Wittgensteins Aussage ist für Christel Koerdt nicht nur Quelle der Inspiration, sondern zugleich Bestätigung des von ihr beschrittenen künstlerischen Weges:
"Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen, du kommst von einer Seite und kennst dich aus, du kommst von einer anderen zu selben Stelle und kennst dich nicht mehr aus."
Marina Schuster
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*Vilém Flusser: Die Schrift,
(1987), 1993, S. 68 |
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